Meine heile Welt – schaukeln mit meinem Inneren Kind


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Bombenangriff hier, Mann erschlägt Frau dort, danach noch ein Busunfall mit fünf Toten, der misshandelte Säugling und zum Abschluss noch das Auto, das in die Menschenmenge gerast ist: Wenn man heutzutage die Nachrichten im Radio hört, dann will man eigentlich gar nicht hinhören. Also bin ich dazu übergegangen, von DRS 1 auf Swiss Classic zu wechseln und meine Seele und meinen Geist von dieser überirdisch schönen Musik verwöhnen, betören, ja verführen zu lassen. Dann schwelge ich in diesen zauberhaften Klängen durch eine zarte, schöne Seelenlandschaft ohne Leid und Gewalt. Auch die Zeitung morgens überfliege ich jeweils kurz und negative Schlagzeilen lese ich bewusst nicht, weil ich sie meinem Inneren Kind nicht zumuten will. Weil auf dieser Welt zu viele Dinge geschehen, die ich mir gar nicht vorstellen will. Und mich dennoch am Rande damit auseinandersetze – weil man gar nicht drum herum kommt (und ich als Journalistin auch eine gewisse Kenntnis der Nachrichtenlage haben sollte). Aber mein Inneres Kind schütze ich. Ich möchte es so lange es geht, in seiner heilen Welt lassen. In einer Welt, in der keine Verrückten mit ihrem Auto in ein Strassencafé fahren, in der niemand seinen neugeborenen Säugling einfach aussetzt, in der es keine Giftgasangriffe oder Atombomben gibt. Bin ich naiv? Weil ich mein Inneres Kind vor diesen Nachrichten bewahren möchte? Weil sich meine empfindliche und zerbrechliche Seele gerne in einer Blase aufhält, geschützt und wohl geborgen von all dem Elend da draussen? In einer heilen Welt, die nur wenig mit der Wirklichkeit da draussen zu tun hat, aber auf mein Seelenheil zugeschnitten ist und meinem Inneren Kind eine überlebenswichtige Oase ist?

    Ja, vielleicht bin ich naiv. Vielleicht behüte ich meine Seele, mein Inneres Kind zu sehr. Aber ich bin der festen Überzeugung, die «kleine Corinne» hat ein Anrecht auf eine heile Welt. Dieses Anrecht konkurriert natürlich direkt mit dem Anrecht auf die Wahrheit, das ist mir klar. Aber, ganz ehrlich: Muss ich mich damit befassen, wieso Menschen andere Menschen umbringen? Ich finde: Nein. Das muss ich nicht. Meine Seele soll sich in eine kuschelige, heile Welt, die sich frühe Kindheit nennt, zurückziehen können. Wir leben hier in einer Luxussituation, in der wir ohne Krieg und ständige Bedrohung aufwachsen. Wieso sollte ich diesen Luxus nicht geniessen und Negatives bewusst ausblenden – wohl verstanden nicht negieren – beziehungsweise gar nicht erst an mich, respektive mein Inneres Kind heranlassen?

    Man wird ein bisschen kindlich im Alter – wobei ich meinen kindlichen Anteil gar nie abgelegt habe – ist langfristig gesünder, finde ich. Konkret heisst das eben – ich will keine Filme mehr sehen, in denen böse Menschen Böses tun. Ich will eigentlich nur Gutes hören und sehen. Mir geht es, in aller Bescheidenheit, wie dem Dichter Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843): «Und es neigen die Weisen oft am Ende zum Schönen sich.» Ein Tag in unserem Leben – wir werden durchgerüttelt von Lärm, Ärger, traurigen Dingen. Man kann (und soll) Afghanistan oder aktuell die Ukraine nicht ausblenden, natürlich nicht. Oder Naturkatastrophen. Oder Corona. Oder, oder … Und dann die persönlichen Sorgen: Krankheiten, Geldknappheit, Streitereien in der Familie, Aufregung im Büro. Wir werden berieselt auf sämtlichen Kanälen von Radio, TV, Kino über Zeitungen bis hin zu den sozialen Medien mit negativen Schlagzeilen. Ich will mich mit Mord und Totschlag – sei es als Krimi in Buchform oder als Film im Fernsehen – erst gar nicht befassen. Dass die Welt (zum Teil) schlecht ist, weiss ich selber.

    Deshalb befasse ich mich mit positiven Dingen, hülle mich in meine pudrigen Parfüms, schmiege mich in meine samtenen Bodys, freue mich an der Natur, an dem Sein in diesem wundervollen Land, geniesse die Gespräche mit den wunderbaren Menschen um mich herum, erkläre meinen kleinen Neffen die Welt – unser Bullerbü, gehe mit meinem Inneren Kind schaukeln, schwebe in meinen Ballettschuhen durch meine Wohnung, zelebriere das Leben und stosse mit süssem Sirup auf das Leben an! Deshalb drehe ich das Radio leiser, wenn die Nachrichten kommen. Deshalb überfliege ich die negativen, reisserischen Schlagzeilen der Zeitung und blättere abends vor dem Schlafen noch eine Weile in meinen Kinderbüchern – wo die Welt (noch) in Ordnung ist.

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

    Vorheriger Artikel«Kletter»spass an grauen Tagen
    Nächster ArtikelIntensive Verhandlungen: Kooperation Ostermundigen Bern