Der LANDENHOF Zentrum für Hören und Sehen in Unterentfelden hat sein Angebot für Kinder mit einer Hör- oder Sehbeeinträchtigung laufend weiterentwickelt und ab Januar 2024 sollen die Dienstleistungen der Aargauer Sehhilfe neu integriert werden. Grund genug die Institution vorzustellen. Geschäftsführer Stefan Buchmüller über die Neuausrichtung zum Kompetenzzentrum für Hören und Sehen, den Veränderungsprozess, den Fachkräftemangel und die Inklusion.
Bis zu 3 von 1000 Kindern werden mit einer Hörbeeinträchtigung geboren. Welche Möglichkeiten hat der LANDENHOF Zentrum für Hören und Sehen, diesen Kindern ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen?
Stefan Buchmüller: Wir unterstützen sie, indem wir ihre Fähigkeiten und ihre Entwicklung möglichst früh gezielt fördern. Wir begleiten und fördern Kinder mit Hörbeeinträchtigungen ab Geburt beim Spracherwerb und in ihrer Gesamtentwicklung, führen audiologische Abklärungen durch und übernehmen die Versorgung mit technischen Hilfsmitteln. Kinder und Jugendliche mit Hörbeeinträchtigungen können bei uns am Landenhof alle Stufen der Volksschule besuchen, hier wohnen oder werden durch unseren Audiopädagogischen Dienst in der Regelschule begleitet.
Heute ist der Landenhof eine Bildungs-, Begleitung- und Beratungsorganisation für Menschen mit Hör- oder Sehbeeinträchtigungen. Wie ist diese Angebotserweiterung entstanden, was beinhaltet sie und wie bringen Sie diese breitgefächerten Dienstleistungen unter ein Dach?
Bis ca. 2010 waren wir im wahrsten Sinne des Wortes eine «Schweizerische» Schwerhörigenschule – viele Schüler/innen kamen aus anderen Deutschschweizer Kantonen. Durch den Finanzausgleich und den Rückzug des Bundesamtes für Sozialversicherungen aus der Schulung von Menschen mit Beeinträchtigungen begannen die Kantone, eigene Angebote zu entwickeln. Dies führte nach und nach zu einem Schwund von ausserkantonalen Schüler/innen. Lange Zeit waren wir ein Schulheim mit einzelnen Tagesschüler/innen, mittlerweile sind wir eine Tagessonderschule mit einzelnen Internatsschüler/innen. Seit ein paar Jahren forcieren die Kantone nach dem Grundsatz «ambulant und stationär» ausserdem die Integration von beeinträchtigten Menschen in die Regelschule und Ausbildung.
Wir haben auf die veränderten Rahmenbedingungen reagiert, indem wir unsere Angebote und Zielgruppen erweitert haben. Der Förderschwerpunkt Hören wurde um den Förderschwerpunkt Sehen, stationäre um ambulante Angebote und Angebote für Kinder um solche für Erwachsene ergänzt. In der Bildung, Begleitung und Beratung von Menschen mit Hör- oder Sehbeeinträchtigung gibt es viele Gemeinsamkeiten. Gleichzeitig stehen wir vor der Herausforderung, dass sich die Bedürfnisse von hör- und sehbeeinträchtigten Menschen zum Teil grundlegend unterscheiden. Während bei hörbeeinträchtigten Menschen viel mit Visualisierung gearbeitet wird, ist bei Sehbeeinträchtigten Verbalisieren wichtig.
Wie viele Schülerinnen und Schüler haben Sie zurzeit und woher stammen sie?
Aktuell besuchen rund 105 Schüler/innen (Kindergarten bis 10. Schuljahr) unsere Tagessonderschule Hören. 12 Schüler/innen aus 8 Kantonen wohnen unter der Woche bei uns. Der Audiopädagogische Dienst begleitet rund 200 hörbeeinträchtigte Schülerinnen (Geburt bis Abschluss Erstausbildung), die eine Regel- oder Sonderschule im Kanton Aargau besuchen. Beim Visiopädagogischen Dienst sind es rund 170 sehbeeinträchtigte Schüler/innen in Aargauer Regel- oder Sonderschulen.
Was sind die grossen Herausforderungen im Alltag von hör- und sehbehinderten Menschen?
Hör- und sehbeeinträchtigte Menschen sind im Alltag mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, die je nach Beeinträchtigung mehr oder weniger ausgeprägt sind. Sie müssen neue Fähigkeiten erwerben, ihre anderen Sinne schärfen und den Umgang mit Hilfsmitteln lernen, um ihre Beeinträchtigung zu kompensieren. Hörbeeinträchtigte und Gehörlose brauchen trotz Hörhilfen unterstützend die Lippenbewegungen und Mimik des Gegenübers, um zu verstehen und kommunizieren zu können. Das Gegenüber sollte daher klar, deutlich und nicht zu schnell sprechen und Blickkontakt halten. Eine Herausforderung sind öffentliche Lautsprecherdurchsagen (z.B. Bahnhof, Spital, Flughafen). Störlärm und Hintergrundgeräusche wie Musik, Lüftungen, klapperndes Geschirr oder Baustellenlärm sind anstrengend und machen müde. Aber auch bei öffentlichen Dienstleistungen, im Kontakt mit Behörden oder bei Arztbesuchen sehen sich hör- und sehbeeinträchtigte Menschen immer wieder mit (Kommunikations-)Barrieren konfrontiert. Und leider stehen viele wichtige (behördliche) Informationen nach wie vor nicht barrierefrei (in leichter Sprache) zur Verfügung.
80% der Wahrnehmung passiert über das Auge. Menschen mit Sehbeeinträchtigung sind daher in der Orientierung und Mobilität eingeschränkt. Damit sie den Alltag autonom meistern können, müssen sie als selbstverständlich angesehene Alltagshandlungen und Handgriffe (z.B. Kochen oder Wäsche waschen) gezielt trainieren. Auch sind sie auf diverse Hilfsmittel (im Unterricht z.B. Bildschirmlesegeräte, Tablet oder Lightbox) angewiesen. Die Arbeitssuche und damit die berufliche Integration wird sowohl von hör- als auch sehbeeinträchtigten Menschen als zentrale Herausforderung beschrieben. Viele sehbeeinträchtigte Menschen berichten zudem, dass ihnen durch das Nichterkennen nonverbaler Kommunikation (z.B. Schmunzeln, Geste, Richtung mit der Hand anzeigen), für sie wichtige Bestandteile in der Kommunikation entgehen und sie dadurch auch missverstanden werden. Die zusätzliche Anstrengung, die hör- und sehbeeinträchtigte Menschen leisten, kann sehr belastend sein.
Der Landenhof ist seit rund drei Jahren auch Träger der Beratung für Schwerhörige und Gehörlose (BFSUG) in den Kantonen Aargau und Solothurn. Was bedeutet dies konkret und wie hat sich diese Aufgabe entwickelt?
Wir haben das Glück, mit der BFSUG eine eigene, auf die Bedürfnisse von schwerhörigen und insbesondere auch gehörlosen Menschen spezialisierte Sozialberatungsstelle im Haus zu haben. Die Mitarbeitenden der BFSUG bieten nebst professioneller Sozialberatung und Begleitung in allen Lebensbereichen auch Jobcoachings zur Integration von gehörlosen Menschen in den Arbeitsmarkt an. Die Beratung kann in Laut- UND Gebärdensprache stattfinden und steht nicht nur schwerhörigen und gehörlosen Menschen, sondern auch ihren Angehörigen und Fachpersonen offen. Seit der Integration der BFSUG deckt unser Angebot die gesamte Lebensspanne – von der Geburt bis zum Tod – ab.
Inklusion ist ein grosses Thema. Wie erleben Sie es im Landenhof und was wünschen Sie sich diesbezüglich?
Wie jede sonderpädagogische Einrichtung sind auch wir gefordert, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Insbesondere in der ambulanten Begleitung und Beratung sehen wir grosses Entwicklungspotenzial. Schüler/innen mit einer Hör- oder Sehbeeinträchtigung benötigen in ihrer Entwicklung besondere Beachtung und Förderung. Daher werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass der Kanton Aargau genügend Ressourcen für die inklusive Beschulung zur Verfügung stellt. Gleichzeitig sind wir überzeugt, dass es auch unser Sonderschulangebot weiterhin braucht, weil Schüler/innen mit Beeinträchtigungen verschiedene Möglichkeiten offenstehen müssen, damit sie ihr Bildungspotenzial ausschöpfen können. Es ist und soll kein Makel sein, ein Teil der Ausbildung in einer Sonderschule absolviert zu haben.
Wenn es darum geht, Barrieren abzubauen, sind auch (technische) Hilfsmittel (z.B. Hörhilfen oder Bildschirmlesegeräte) von zentraler Bedeutung. Daher ist es wichtig, dass dringend benötigte Hilfsmittel schnell bewilligt werden. Bei uns am Landenhof ist speziell auch der Einsatz von Gebärdensprache immer wieder ein Thema, weshalb wir unsere Angebote diesbezüglich profilieren. So können beispielsweise interessierte Schüler/innen ab der 4. Klasse das Wahlfach «Gebärdensprache» besuchen. Zudem ist es uns wichtig, dass Eltern die Möglichkeit haben, die Gebärdensprache in der Familie zu erlernen – sie unterstützen wir mittels Finanzierung von Heimgebärdenkurse. Für eine gelingende Inklusion von Kindern mit Beeinträchtigung braucht es gut ausgebildete Fachleute. Diese fehlen jedoch. Hier braucht es mehr finanzielle und zeitliche Ressourcen, um Mitarbeitende ganz gezielt aus- und weiterbilden zu können.
Ab Januar 2024 sollen die Dienstleistungen der Aargauer Sehhilfe neu unter dem Dach des Landenhofs Zentrum für Hören und Sehen angeboten werden. Welche Idee steckt dahinter und was bedeutet diese konkret für den Landenhof?
Mit der Integration der Aargauer Sehhilfe planen wir, unser ambulantes Angebot mit der umfassenden Beratung von Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung zu ergänzen und nebst der Beratung für Schwerhörige und Gehörlose Aargau Solothurn künftig eine zweite Beratungsstelle zu führen. Durch die neue räumliche Nähe der Aargauer Sehhilfe zu unseren anderen Angeboten im Bereich der Sehbeeinträchtigungen- Visiopädagogischer Dienst und geplante Tagessonderschule Sehen sollen Synergien künftig noch besser genutzt werden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft für den LANDENHOF Zentrum für Hören und Sehen?
Dass wir unsere Angebote weiterhin professionell entlang den Bedürfnissen von hör- und sehbeeinträchtigten Kindern und deren Eltern bereitstellen und sie so bestmöglich fördern, schulen, begleiten und beraten können. Folglich wünsche ich mir, weiterhin mit gut ausgebildetem, sehr engagiertem und hoch motivierten Kolleg/innen zusammenarbeiten zu dürfen. Wir befinden uns in einem Veränderungsprozess, der auf der Grundlage einer klar formulierten Strategie erfolgt. Ich wünsche mir, dass die Neuausrichtung zum Kompetenzzentrum für Hören und Sehen weiterhin gut gelingt und Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung von unseren neuen Angeboten profitieren können.
Interview: Corinne Remund